Berlin, du langweilst mich! – Zur Schließung des Theater o.N. in der Kollwitzstraße

by leastreisand
Gestern wurde ich in einem Interview gefragt, wie ich denn als Künstlerin die Entwicklung Berlins innerhalb der letzten fünf Jahre einschätze. Der Interviewer kam aus einem kleinen Ort in Schleswig Holstein, dessen berühmtestes Bauwerk eine Eisenbahnbrücke ist. Er habe gehört, Berlin sei so hart geworden.

Für mich wird Berlin immer langweiliger. Immer aufgeräumter. Immer sauberer.

Früher war Berlin ein Durcheinander und Nebeneinander vieler unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und unterschiedlichen Hintergründen. Heute ist alles geordnet. Die Hipster in Neukölln, die Touristen in Friedrichshain, Schwule nach Schöneberg und Yuppies mit Kindern nach Prenzlauer Berg. Langweilig!

Als ich ein Teenager war, in den Neunziger Jahren, war der Kollwitzplatz der Nabel der Welt. Einen oder zwei Sommer lang. Jeden Abend tigerten wir die Marienburger hoch, um uns auf dem winzigen Rasenstückchen in der Mitte des Kollwitzplatzes um ein winziges Lagerfeuer aus alten Zeitungen und Hundestöckchen zu scharen. Sogar die Punks aus Pankow kamen. Blondgelockte Jünglinge mit Kapuzenpullis spielten Gitarre. Das Bier war schrecklich bitter, aber die Küsse beim Flaschendrehen waren süß. 

Am Wochenende schummelten wir uns mit Schülerausweisen, auf denen wir irrsinnig stümperhaft unser Alter gefälscht hatten, ins Knaack oder den Magnet-Club.
Die Eltern ließen uns meistens in Ruhe. Nur manchmal riefen sie die Feuerwehr, wenn die Flammen des Lagerfeuers zu hoch schlugen. Die Eltern machten Kunst oder Theater oder schafften auf dem Bau, manche waren arbeitslos. Sie alle waren vollauf damit beschäftigt, sich in dem neuen System zurecht zu finden.

Das neue Jahrtausend kam. Die Teenager wurden erwachsen, machten die Schule fertig oder auch nicht, gingen zum Studieren weg oder auch nicht. Die meisten Eltern zogen aus den Wohnungen aus, weil die Mieten zu teuer wurden.
Der Knaack machte 2010 zu. Die Eigentümer der Luxuswohnungen in einem nahe gelegenen Neubau hatten sich über den Lärm beschwert. Also nachdem sie wohlweislich einen Neubau hatten bauen lassen. Neben dem ältesten Club der Stadt.
Der Magnet-Club zog 2012 aus ähnlichen Gründen nach Kreuzberg.

Jetzt macht das Theater o.N. seine Pforten dicht. EIN THEATER. Kein Club mit wummernden Bässen jede Nacht und besoffenen Touristen, die in die Hauseingänge kotzen.

Ein kleines freies Theater, das erste der DDR, das seit 40 Jahren, anfangs unter dem Namen Zinnober, kleine feine Inszenierungen für Kinder und Erwachsene auf die Bretter stellt, seit zwanzig Jahren in der Kollwitzstraße. Ein Zimmertheater. Mehr als 50 Zuschauer passen gar nicht rein. 

Das Haus, in dem sich das Theater noch befindet, wurde in den 90er Jahren vom jetzigen Eigentümer gekauft und mit Subventionen vom Land Berlin saniert. Die Gelder waren an die Auflage geknüpft, eine der Gewerbeflächen günstig an ein soziales oder kulturelles Projekt zu vermieten. Nun läuft der Vertrag aus. Das Theater o.N. darf sich neu bewerben. Zusammen mit einem Delikatessenladen wahrscheinlich. Und einem Modedesigner. Und irgendwas mit Möbeln. 

Wenn das Theater o.N. wirklich schließt, verschwindet nach dem Weggang Frank Castorfs von der Berliner Volksbühne auch ein weiteres Stück ostdeutscher Kultur- und Theatergeschichte. 

Für mich gibt es bald keinen Grund mehr, überhaupt noch zum Kollwitzplatz zu fahren. Die Restaurants dort sind seit Langem unbezahlbar. Die letzte Pizzeria in der Kollwitzstraße hat vor drei Jahren zu gemacht. Zu billig für die Anwohner. Zu kohlehydrathaltig. Und auf dem Kollwitzplatz haben längst andere die Regie übernommen.

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Im November besuchte ich im Theater o.N. ein Gastspiel von Marianne Fritz wunderbarer Peer Gynt-Inszenierung. Fritz erzählte die nordische Sage, frei nach Henrik Ibsen, als Netz von Erzählfäden und Erinnerungen. Und als Geschichte eines Mannes, der sich immer mit den größten Gegnern anlegt. 

Hier ein kurzer Ausschnitt:

Faden für Faden. Marianne Fritz erzählt „Peer Gynt“ im Theater o.N. (November 2016)