Stephan Göritz war eine Radiostimme. Nicht mehr und nicht weniger.
Vor gut acht Jahren kam er das erste Mal zu mir nach Hause. Er wollte mich für seine Sendung Querköpfe im Deutschlandfunk interviewen. Ich war irrsinnig aufgeregt und versuchte, etwas über diesen Mann herauszufinden, von dem ich nur diesen kratzigen Bariton kannte, der jedes Wort, jeden Buchstaben einzeln artikulierte.
Als wir uns das erste Mal trafen, war Januar und Berlin mit einer Eisschicht überzogen. Ich traute mich mit meiner Gehbehinderung nicht auf die Straße. Stephan schon. Pünktlich um elf klingelte es unten an der Haustür. Dann Schritte im Hausflur, die Treppen hoch.
Es gibt keine Bilder von Stephan im Internet. Darauf achtete er peinlich genau. Er wollte Betrachter sein, kein Betrachteter, wollte gehört werden, unsichtbar bleiben.
Er sieht aus wie ein altes Kind, dachte ich erstaunt und schaute in seine großen hellblauen Augen, hielt seine kleine Kinderhand fest, die meine Hände zu Pranken werden ließ. Er trug einen Bart im Gesicht und Schneeketten an den Füßen, um sich selbst bei dem Glatteis nicht auf die Fresse zu packen, was er selbst so nie gesagt, ihm aber vermutlich sehr gefallen hätte.
Er mochte das Grobe genauso wie das Feinsinnige. Wenn es hintergründig war.
In seinen Querköpfe Sendungen sezierte er die sogenannte Kleinkunst von Lesebühne über Chanson bis Politkabarett, trug Schicht für Schicht des Gesagten oder Gesungenen ab, betrachtete, analysierte und kategorisierte es und setzte es mit der Akribie eines Goldschmieds mit Dutzenden anderen, teilweise nur Sekunden langen Tonschnipseln zu einstündigen Lehrstücken zusammen, die selbst Kunstwerke waren.
Der studierte Theaterwissenschaftler schrieb selbst Stücke sowie Chansons und adaptierte seit DDR-Zeiten Märchen fürs Radio. Seine ganze Aufmerksamkeit, sein ganzes Leben widmete er dem unermesslichen Reichtum dessen, was von Bühnen- und Erzählkunst übrigbleibt, wenn man die sogenannte Hochkultur wegnimmt.
Bei unserem letzten Treffen empörte ich ihn damit, wie schön ich es fände, dass meine Montagmorgenkolumne bei Radio Eins beiläufig gehört, in den Alltag der Hörer integriert werde, ins Frühstücken, Duschen, Zur-Arbeit-Fahren. Stephan wurde streng. Er mache seine Sendungen für aufmerksame Zuhörer, erklärte er, sonst könne er sich die Mühe gleich sparen.
Er hatte eine Sendung. Und nicht viel Zeit. In den letzten Jahren jagte eine CD-Veröffentlichung von Stephan die nächste. Erst seine Märchenadaptionen, dann die preisgekrönten Features „Ohne Humor wären wir nicht durchgekommen“ und „Krieg ist nicht gut für den Frieden“.
Von sich selbst erzählte er nie öffentlich. Das unterschied uns beide. Unsere körperliche Einschränkung war nur einer von vielen Punkten, die uns verbanden.
Einmal im Jahr tranken wir zusammen Tee und redeten über Bücher. Nur für ihn stand eine zarte weiße Teetasse bei uns im Küchenschrank. Seine Hände waren zu fein für die groben Kaffeepötte.
Nun ist Stephan mit nur 57 Jahren gestorben. Ein feiner Mensch. Eine Radiostimme. Nicht mehr und nicht weniger.
Der Text erschien zuerst im April 2018 im Magazin der Berliner Zeitung unter der Rubrik Berliner Ensemble.
Am Sonntag, den 12.5.2018 gibt es um 13 Uhr eine Gedenkveranstaltung für Stephan Göritz in der Bar jeder Vernunft (Schaperstr. 24, Berlin Charlottenburg) mit Pigor und Eichhorn, Sebastian Krämer, Manfred Maurenbrecher, mir u.v.a. (Steht nich auf der Webseite, stimmt aber!)